20
Feb
2009

Gisela

Als ich begann, den Keller auszuräumen, sah ich nach kurzer Zeit ihre Silhouette. Neben den Skiern, zwischen eine Kühlbox und drei Umzugskartons geklemmt. Der grobe leinerne Kissenbezug, in die ich sie vor über 20 Jahren gewickelt hatte, stand an der Seite offen. Kleine bleiche Finger sahen heraus.
Es war wie bei jedem meiner zahlreichen Umzüge, ich beschloß, das Bündel mit dem kleinen, starren Körper wegzuwerfen. Einfach so in den Müll, mit allem anderen, von dem ich mich ohne Probleme trennte. Es würde nicht auffallen, der Container war riesig und morgen kam die Müllabfuhr und ich war sie endlich los.
Wie jedes Mal zögerte ich, als ich das Bündel schmutzigen Leinens auf dem Arm hielt. Sie war so leicht. Ich öffnete wie jedes Mal den Leinenbezug, um einen Blick auf sie zu werfen. Die starren Glieder, ich hatte immer Angst, daß sie könnten zerbrechen. Das verdrückte Kleidchen und die vergilbte Rüschenhose auf dem Kinderpopo. Das stumpfe flachsfarbene Haar. Die Augen, die sich öffneten und schlossen, wenn ich sie wiegte.
"Nenn sie doch Gisela", sagte KKM, als sie sie mir zum ersten Mal in den Arm legte.
Damals war ich nicht wesentlich größer als sie. Ich mußte mit aller Vorsicht mit ihr umgehen, denn sie war aus Porzellan. Die Puppe eines verwöhnten Mädchens aus der sächsischen Provinz, 1927 oder 1928 hatte sie wohl unter dem Weihnachtsbaum gesessen.
Ich mochte Gisela nicht so richtig, sie war zu empfindlich. Die anderen 2 Puppen, die ich hatte, waren aus Plastik und ich konnte sie nach Herzenslust quälen. Sie mit Nadeln zerstechen, verbiegen, quetschen und ihnen Arme und Beine ausreißen. Gisela saß auf dem Sofa, im frisch gebügelten Kleidchen, mit neu geflochtenem Zopf (echte Haare!) und schaute blasiert zu.
Als ich von KKM wegging, zu meinen Eltern, geriet sie in Vergessenheit. Sehr viel später, ich war Anfang 20, fand ich sie wieder. Sie war wieder in das Haus geraten, in dem sie einst unterm Weihnachtsbaum gesesssen hatte. Bei der Auflösung des Hausrats meiner Urgroßeltern fand ich sie auf dem Boden eines riesigen Schrankes. Ich wickelte sie in einen handgewebten Lausitzer Kissenbezug und nahm sie mit. Nun begleitete sie mich, zog von Schrank zu Zwischenboden zum Keller, von brandenburgisch Sibirien in den Prenzlauer Berg, nach Schöneberg, nach Köpenick...
Sie war gut 20 Jahre meine versteckte Begleiterin, als ich KKM dabei assistierte, einen Rentenantrag für Kindererziehungsjahre zu stellen. Wir saßen vor den Papieren. Liste der Kinder, Geburtsdaten. Mein Vater. Mein Onkel. Dann noch das Mädchen, das bei der Geburt starb. Die Zwillingsschwester meines Onkels. Ich wußte nur, daß sie den ersten Tag nicht überlebte. KKM reichte mir einen Zettel. Eine Geburtsurkunde.
Gisela.

Deshalb ist die Puppe immer noch bei mir. Nun in einem Außenlager, keine 5 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem sie mir KKM reichte und ihr einen Namen gab. Es ist recht so.
Am Tag der Beerdigung von KKM, draußen vor der Haustür, wir waren allein, begann mein Onkel zu reden: "Der Vater hat mich nie richtig angesehen. Ich war da. Aber er wollte ein Mädchen. Als sie dich dann aufgenommen haben, war er endlich glücklich."
Das Mädele. Das Ziehkind. Der Ersatz.
Seit über 20 Jahren schleppe ich das Bündel mit Namen Gisela durch die Welt. "Die Kinderleiche" habe ich es immer genannt, wenn es mir wieder in die Hände fiel. Wir gehören wohl zusammen.

...

kann mir jemand eine gute online-druckerei empfehlen?
(brauche neue visitenkarten und briefpapier).
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