29
Sep
2008

Morgens in Kreuzberg

Ich schwebe im Doppelstockbus von der Oranien- in die Wiener Straße. Unter der Hochbahn, auf dem Radweg, da liegt dieses weiße Pulver, das nach Unfällen verstreut wird. Und mittendrin ein einzelner, beigefarbener Cordschuh.

26
Sep
2008

Mit einem glücklichen Lächeln

habe ich die Nominierungen von _Mo und Glam entgegengenommen.
Für einen Menschen, der oft das Gefühl hat, allein auf einer Insel oder in einem Aquarium zu leben, ist das etwas sehr berührendes.
Ich lese viele Blogs und viele davon schätze ich sehr, so sind die sieben, die jetzt folgen, nur eine Auswahl:
Mit Glamourdick beginnt mein Arbeitstag, denn dann steht dort immer ein frischer Beitrag und manchmal sind die Texte so schön, daß ich leise in meine Kaffeetasse heule.
Remington erzählt Geschichten aus der Heimat meiner Familie, ich höre das fette, gemütliche Sächsisch der Zoobesucher in meinem Ohr.
Lucky hat das grünste Blog und den grünsten Daumen Berlins und einen umwerfenden Humor.
Frau Fragmente, die sich derzeit zwar mehr mit der Arbeit als mit Postings beschäftigt, aber ihre raren Beiträge sind Highlights. Gibt es noch eine Frau, die so über Sex schreibt?
Larousse, weil sie dem drögen kleinen Geldländchen (stehen die Banken eigentlich noch?) hippes Flair gibt.
Holgi, weil er mit zwei Worten oft mehr sagt, als jemand anders auf einer Seite.
Und Lu, erstens, weil ihr kitschbefreiter Katzenkontent für mich als Allergikerin und trotzdem Liebhaberin den Verlust der schnurrenden Fusselmonster kompensiert und für ihren irrlichternden Rheinländischen Existenzialismus.

Ich bin ja nicht so ein Freund vom Schneeballsystem. Mich bringt das schon in die Bredouille und wenn sich wer nun durch mich noch stärker in selbiger fühlt, so bitte ich nur um Annahme des Kompliments.

23
Sep
2008

Ungarn kann sehr kalt sein V

Wir verbrachten unseren letzten Abend auf dem Burgberg. Denn das Klassz hatte leider schon geschlossen. Der Reiseführer empfahl ein preiswertes Wild- und Geflügel-Restaurant mit dem schier unaussprechlichen Namen Aranyszarvas. Nach der Yuppiefischladenpleite am Abend vorher war uns das nur recht. Als wir nach kurzem Fußmarsch ankamen, sah es allerdings wesentlich exklusiver aus als beschreiben. Tatsächlich, es war vor vier Wochen nach großer Renovierung von einem neuen Besitzer zwei Kategorien edler neu eröffnet worden. Die Karte war allerdings ähnlich: Wild wie Reh, Hase, Gans, Ente, Rebhuhn und Ente und ungarische Landwaren, Gemüse, Kalb, Mangalicaschwein und ein komisches graues Büffelrind, dessen deutschen Namen ich nicht kenne. Wir aßen Schinken, Paprikawurst, geräucherte Zunge und noch ein paar tolle kleine Schweinereien als Vorspeise. Dann gab es Kalbspaprikasz (das, was wir als Gulasch kennen) mt Knödeln, geröstete Wildente mit pfefferkuchengedickter Soße und Klößen und gebratene Wildgansbrust mit pfannengerührtem Rotkohl. Das war ganz großes Kino. Unprätentiös und freundlich serviert, aber mit Gourmetniveau und Gott sei dank ohne das Getue drumherum. Dazu tranken wir Tokaier und Rotwein. Dann rollten wir langsam heim, den guten Geschmack noch auf der Zunge. Der Abend war milder als die anderen. er Wind hatte sich gelegt und die Sterne standen am Himmel. Wir gingen quer über den Burgberg und sahen auf die nächtliche Stadt, nun war alles gut.

Außer, daß wir am nächsten Morgen um 4 Uhr aufstehen mußten, weil Malev wiederum darauf bestand, daß wir 120 Minuten vorher da zu sein hatten. Am Flughafen angekommen, klemmten wir uns in den nächsten Sessel, um 40 Minuten zu schlafen, bis wir wirklich einchecken konnten...

Ungarn kann sehr kalt sein IV

Wir saßen im Konzert ganz hinten auf Notstühlen und konnten von Glück reden, daß wir überhaupt noch reingekommen waren, unsere Karten waren längst verkauft. Wir waren umgeben von den üblichen Kulturtouristen und sehr vielen Ungarn, Gemeindemitgliedern, kulturell Interessierten. Neben mir saß ein uraltes Paar in Begleitung eines jungen Mannes, der aussah wie ein italienisches Renaissanceporträt. Er drückte gedankenversunken immer wieder auf die Knöpfe seines Handys, als würde er sich mit den Perlen eines Rosenkranzes beschäftigen. Auf seinem Display leuchtete ein Madonnenbild. Als die Musik begann, dirigierte er verhalten mit, mit bebenden Händen und sang sehr leise dazu.
Das muß der Vivaldi-Effekt sein. Ich erinnere mich an eine Fahrt durch die Nacht um den Luganer See, während meine Freundin auf dem Beifahrersitz die Vier Jahreszeiten dirigierte.
Es war wirklich ein interessantes Publikum. Sie hörten sehr still zu, auch die vielen Kinder waren nicht zu hören. Der Beifall danach war sachlich, freundlich, fast verhalten, obwohl das Konzert hervorragend war. Keine standing ovations, keine aufgesetzte Emphase und hatte man das Gefühl, daß die Anwesenden die Musikstücke (Vivaldi, Bach , J. H. Schein) sehr gut kannten.
Wie weit war das weg von unserem Hey, ich bin der kluge Superchecker, denn ich halte ein Klassikkonzert aus! Am liebsten mag ich Anna Netrebko, denn die sieht toll aus und Lang Lang ist ein toller Klavierspieler, denn die Karten sind immer ausverkauft...
Danach hatte ich einfach nur noch brüllenden Hunger. Wir konsultierten den Reiseführer und fanden das Ocean. Frischer Fisch und ein cooler Laden, das brachte unsere Ansprüche weitestgehend auf einen Punkt: der englische Freund hatte seinen Luxus und ich mein glutenfreies Essen. Es war etwas leer, die Hübsche am Eingang fragte trotzdem, ob wir reserviert hätten. (Naja, wenn ihr das so beigebracht worden ist.) Die Weinempfehlung war hervorragend, ein im Barrique ausgebauter Weisswein (was ich ansonsten nicht so sehr mag). Überhaupt sind die ungarischen Weine eine Wucht und vor allem ist in der Qualität immer noch Platz nach oben. Der Anbau ist ja erst seit 10 Jahren von der Massenerzeugung weggegangen zu individuellen Produkten.
Das Essen war eine Katastrophe. Da die Stadt sich erst langsam wieder füllte, denn die Schulferien endeten gerade erst, war scheinbar auch der Chef nicht da und in der Küche werkelte abends ein Adlatus allein. Daher konnten wir problemlos die Herstellungsreihenfolge der Gerichte am Trockenheitsgrad rekonstruieren. Mein Kabeljau mit Senfkruste war hart und trocken. HeMans Lachstrilogie hatte die ganze Palette: angetrocknete Krusten, faserig-trocken, einfach nur trocken. Einzig der Grillfisch des englischen Freunds war auf den Punkt gegart und sehr lecker. Das darf einfach nicht passieren, auch wenn die Preise, gemessen an deutschen Verhältnissen, moderat sind. So ein Restaurant verkündet überall sein Konzept und das muß es dann auch erfüllen. Der Service dagegen war hervorragend. Charmante junge Leute, die sehr kompetent waren und gutes Englisch sprachen.

Am nächsten Morgen beschlossen wir, diese Herumirrerei aufzugeben. Wir fuhren mit dem Taxi zum Kunstpalast und zum Nationaltheater, die etwas entlegen waren, weil der Reiseführer ziemlich kontroverse Architektur versprach. Der Kunstpalast war das schönste moderne Gebäude, das ich dort gesehen habe. Innen mit fast skandinvisch mit hellen Nussbaumverkleidungen und viel Glas, Räume, die manchmal Scharouns Staatsbibliothek zitieren. Und das schönste war, das das Haus nicht leer und tot war, sondern voller Kinder, die malten und sangen, es gab irgendeine Ritterveranstaltung. Das erinnerte mich sehr an den Palast der Republik in Berlin (R.I.P.), der auch ein Ort war, zu dem jedermann jederzeit Zutritt hatte, wenn er sich der Kultiviertheit der Räume entsprechend benahm. Repräsentative Räume betritt man in Deutschland fast nur noch in Zusammenhang mit Konsum oder Marketing (es sei denn man bekommt das Bundesverdienstkreuz), das ist alles kommerzialisiert.
Das Schauspielhaus ist eine so große architektonische Katastrophe, daß man es eigenlich nur als Ironie begreifen kann (ein in einem künstlichen See versunkener Tempel, garniert mit brennenden Fackeln, der sich 10 Schritte weiter in einen Schiffsbug verwandelt. Aber ich glaube das Ding wird mal berühmt.

Unser Taxifahrer war sehr nett und hatte einen gemütlichen neuen Wagen (ungarische Taxis gleichen in der Qualität denen aus Berlin, man wundert sich, welche Mühlen überhaupt noch fahren), das brachte uns auf die dekadente Idee, die Gruppendynamik auszutricksen und der Kälte zu entfliehen, indem wir 2 1/2 Stunden Stadtrundfahrt mit ihm machten.

Für mich ist es immer noch nicht begreiflich, daß ich in einem Land, in dem ich früher jeden Pfennig umdrehen mußte, so etwas tun kann. Ich habs allerdings nicht bezahlt...

Wir fuhren duch die Nebenstraßen der Innenstadt. Da gab es sehr viel Armut zu sehen. Die Berufsbettler waren alle in den Touristenzentren, hier gab es elende Gestalten. Barfüßige Penner, heruntergekommene Behinderte, Geistesgestörte und jede Menge schlafende Obdachlose. Dazu bitter arme alte Menschen mit abgetragenen Sachen, in einem Gesundheitszustand, in dem man in Deutschland längst zum Pflegefall erklärt und umsorgt würde...
Uns geht es sehr gut. Und beim Anblick von Prag und Budapest weiß ich, daß die Investitionen, die in den Osten geflossen sind, vielleilcht einen Grad von Demütigung mit sich brachten, der einem solchen Geschenk immanent ist. Aber wir sind noch mal davongekommen. Jeglicher andere Weg hätte uns diese brutale Armut sozial schwacher Schichten gebracht, gegen die Hartz Iv Vollpension ist.
Wir machten auf unserer Tour Halt am Parlament (nett, aber noch in der Sommerpause und bei dem Wetter laaangweilig), am Kunstgewerbemuseum (amazing, wie der englische Freund erklärte, es gab nur wenige Exponate zu sehen, weil das Museum grade umgebaut wird, aber schon die waren wunderschön, so wie das ganze Gebäude), an der Synagoge (Klezmer-Musik-Overkill im Eingangbereich, aber ein wunderschönes Gotteshaus). Dann fuhren wir zum Kerepesi-Friedhof. Das war der Hammer. Abgesehen davon, daß wir ganz dekadent mit dem Taxi auf dem Friefhof herumfuhren, konnte man das sehr eigene Verhältnis der Ungarn zum Tod sehen, das dem der Österreicher in nichts nachsteht. (Die höchste Selbstmordrate in der EU nach Österreich.) Es gab nicht nur historische Gräber mit wunderbaren weinenden Engeln, es gab auch moderne Gräber mit Glasskulpturen und ziemlich verrückter Gestaltung. Vor einem der Gräber - in eine Glasstele war das Bild eine jungen Mannes eingeätzt - saß ein weinendes Elternpaar auf einer Bank.

... Fortsetzung folgt

22
Sep
2008

Ungarn kann sehr kalt sein III

Am nächsten Morgen hatte jeder im stillen Kämmerlein seinen Beitrag zu einer besseren Organisation des nächsten Tages ausgearbeitet. Es gab abends Karten für ein Vivaldi-Konzert in einer Kirche, es gab eine Sightseeing-Route, eine Ausstellungsbesichtigung, die Besichtigung der Oper und eingestreut der tägliche Kaffeehausbreak und ein Essen in einem guten Restaurant. Es schien sogar ab und zu die Sonne! Ich vermute, vor allem, weil ich den ganzen Tag meinen Regenschirm mit mir herumtrug. Die
Matthiaskirche und die Stephans-Basilika lohnen sich anzusehen. Die erstere, weil sie einen Eindruck gibt, wie die Wände der Kirchen früher sehr oft bemalt waren, dicht und üppig. Die zweite, weil sie so größenwahnsinnig schön ist, es ist der pure rotgoldene Protz und es ist gut proportioniert und elegant. Allerdings habe ich den Eindruck, daß Gott in diesen Kirchen nur in touristenfreien Zeiten wohnt. Telefonierende Italiener, Chinesen, die sich auf dem Pult vorm Altar mit segnender Geste fotografieren lassen, mit Respekt vor Religion hat das nichts mehr zu tun.
Den Touriherden zum Trotz, ist der Altar der Heiligen Rita, der Patronin für aussichtslose Angelegenheiten, von Betenden stark frequentiert.
Die Opernbesichtigung war realsozialitisches Deja-vu und Touristen-Nepp in einem. Wir wären nie auf die Idee gekommen, denn eigentlich wollten wir in eine Vorstellung gehen, aber es war noch Sommerpause. Und so standen wir zunächst geduldig 40 Minuten Schlange. Das war wenig, hinter uns standen mindestens noch 200 Leute an. Das Ticket hatte den Preis einer halben Opernkarte. Für diesen Betrag führten uns nette Studentinnen (wahrscheinlich für ein Taschengeld und eine Praktikumsbescheinigung) in verschiedenen Sprachen im Schweinsgalopp durch das Haus. Mitunter waren drei Gruppen in einem Raum und moderierten parallel deutsch, französisch und englisch. Mit uns in der deutschen Gruppe waren wieder einige alte Damen mit schier unverständlichem Dialekt und eine Gruppe von Jungs in Krachledernen und Janker. Wir wechselten dann unauffällig zur englischen Gruppe, die hatte entschieden mehr Humor.
Als wir das überstanden hatten (das Opernhaus ist wirklich sehr schön!), kehrten wir in einen Laden ein, den HeMan am Tag zuvor entdeckt hatte: Das Klassz. Ein schön gestalteter Raum mit scheinbar selbst gemalten Tapeten, eine Karte mit neu interpretierter ungarischer Küche, gutes Geschirr und Glas, gutes Besteck und jede Menge Wein. Der Tresen selbst ist aus gestapelten Weinkartons improvisiert. Da wir weiter wollten, aßen wir nichts, was ich wirklich bedauerte, allein die Gerüche der vorbeischwebenden Teller... Dazu wirklich coole Leute an den Nebentischen. Wir plauderten, als wir durch die Fenster sahen, daß die Polizisten, die wir den ganzen Tag schon herdenweise in der Gegend gesehen hatten, die Straße absperrten: Eine Demonstration der Nationalisten. Wenn ich es aus anderen Gesprächen richtig verstanden hatte, ging es gegen die ungeheure Korruption auf Stadt- und Regierungsebene.
Dann passierte erst mal nichts, außer daß die eine oder andere Glatze verlegen den Gehweg langlief. Ich witzelte rum, daß das wohl sei wie in Deutschland, auf jede Glatze 10 Polizisten, doch dann kamen sie. Ein schwarzer Block. Junge Typen mit Springerstiefeln, aber auch sehr viele wütende Menschen im mittleren Alter, denen man ansah, daß es ihnen nicht besonders gut ging. Es mögen 1000 gewesen sein oder mehr, mit Fahnen und Transparenten, mittendrin der LKW eines Radiosenders.
Als der Spuk vorbei war, wollten wir zu der Kirche laufen, in der das Konzert stattfand. Dafür hätten wir mitten durch die Demonstration gemußt. Uns kamen Leute entgegen, die meinten, das sollten wir lassen, die Polizei hätte weiter hinten Tränengas eingesetzt.
HeMan meinte, komm, wir laufen drumherum, ich frag den Polizisten, der gerade wieder in den Streifenwagen steigen will. Der Polizist stieg aus, wies uns kurz angebunden den Weg und sprang wieder in den anfahrenden Wagen. Ich dachte: So ein Idiot, will der Feierabend machen oder was? Dann machte es über unseren Köpfen wuschhhh und es wurde heiß. Eine Sekunde später schlug ein Molotow-Cocktail zwischen dem flüchtenden Polizeiauto und HeMan ein. Hinter unserem Rücken war der unternehmungslustige Teil der Demo wieder auf uns zugekommen und riß Better aus einem Baugerüst. Wir verschwanden schnell in einer Seitenstraße. Der englische Freund war nirgendwo zu sehen. Er hatte zwar meine Telefonnummer im Handy gespeichert, ich aber nicht seine und HeMans Handy lag im Hotel...
Wir beschlossen in einem großen Bogen zu der Kirche zu gehen. Vielleicht kam der englische Freund auf dieselbe Idee oder er meldete sich bei mir. Was er zu unserer Erleichterung nach 10 Minuten auch tat. Er war ins Restaurant zurück geflüchtet und mußte abwarten, bis die Randale vorbei war. Aber der 1. Mai in Kreuzberg ist meistens schlimmer. Ganz am Rande bemerkt wunderte mich das jegliche Fehlen linken Gegenprotestes unter tatkräftiger Teilnahme autonomer Gruppen... das scheint eine deutsche Spezialität zu sein.

Wir schafften es gerade noch ins Konzert und hatten Zeit bei Nisi Dominus über das Erlebte nachzudenken. Vor uns saß eine Mutter mit einem Baby, das sich während der 1 1/2 Sunden nicht muckste und sich sehr wohl fühlte. Eine gute Alternative zu Pekip: Kirchenkonzerte.

... Fortsetzung folgt

Ungarn kann sehr kalt sein II

Überhaupt, dieser Burgberg und insbesondere diese Fischerbastei (nach der wir immer suchten, bis wir mitbekamen, daß das die ulkigen, disneyhaften Türmchen sind). Die äußere Arkade, die den herrlichen Blick auf die Stadt hat, ist nun zu 80% abgesperrt und in ein Café verwandelt, mit stehgeigendem Zigeunerprimas und Latte-Macchiato-Karte. Es mag nur keiner reingehen, denn es zieht vom Fluß her wie Hechtsuppe. Auf den freien 20% drängeln sich fotografierende Touristen und schlecht gestickte Weihnachtsdecken feilbietende Frauen.
Am ersten Tag machten wir nur einen Orientierungslauf auf der Buda-Seite und nachdem der englische Freund angekommen war, mußten wir uns mit reichlich Nahrung gegenseitig aufs Laufende bringen. Zuerst im Ruszwurm. Vergeßt nach diesem Kuchen alle anderen Konditoreien der Stadt! Ich schlabberte die Creme aus einer Cremeschnitte und war selig, denn sie erinerte mich an etwas, was meine Urgroßtante fabrizierte, wenn wir in den Ferien zu Besuch waren: ein grob verrührtes Gemisch von Vanillepudding, Puderzucker und steifer Sahne. Und Mohnstrudel gab es! Mohnstrudel! Nicht grauschwarz gepunktete Puddingmasse, die man aus Deutschland kennt, sondern rabenschwarzer, bitter-aromatischer unverschnittener gemahlener Mohn in hauchdünnem Teig. Wir führten das Gespräch dann in einem fast ausschließlich von Ungarn frequentierten Restaurant weiter, das darauf spezialisiert war, Geschnipseltes - Huhn, Schwein, Wurst, Gemüse, Kartoffeln und jede Menge Paprika, sowohl als Pulver als auch roh - in kleine blecherne Pfannen zu werfen und knusprig anzubraten. Dazu gab es ein buntes Sammelsurium Wein, denn sie hatten nach einer großen Party nur noch Reste übrig. Also kosteten wir uns durch. Der englische Freund hat nach 10 Jahren Schwerstmaloche auf den oberen Stufen der Erfolgsleiter seinen Job hingeschmissen und besucht nun erst mal die auf der halben Welt verstreuten Freunde und Verwandten, um sich dann für eine Weile bei seinem Vater auf der anderen Seite der Erdkugel niederzulassen. Er hatte wunderbare Geschichten vom Landleben in Oregon zu erzählen, dort hatte er die letzten fünf Wochen verbracht.

Am nächsten Morgen ging alles schief. Es war kalt. Hundekalt. Usselig, wie der Rheinländer an meiner Seite sagt. Ich zog drei Pullover übereinander. Vor den Stiefeln, die ich mithatte, schreckte ich noch zurück, doch mit meinen leichten Turnschuhen loszulaufen war ein Fehler, wie ich später merkte. Auch der englische Freund verweigerte sich dem Regenmantel und fror erbärmlich in Hemd und Sommersakko. Wir zogen los in einen graufeuchten Tag, um die Pest-Seite zu erkunden. Ohne Stadtführer und ohne Karte, wie wir nach einer halben Stunde merkten. Uns stellte sich der Teil der Stadt, von der Kettenbrücke aus als verwirrend und unübersichtlich dar. Wir liefen durch Straßenzüge mit großen, repräsentativen, aber heruntergekommenen Häusern, Historismus und Jugendstil, es gab die eine oder andere liebevolle Sanierung, dann aber kamen wieder Baustellen über Baustellen und hundertmeterweise leerstehende Ladenarkaden. Vor fast 10 Jahren sah es in Prag auch so aus, erinnerte ich mich. Es muß in den Wohnungen der alten Prachtboulevards einen heftigen Mieterwechsel geben. Alle Nase lang lagen ganze Wohnungseinrichtungen auf der Straße, alt und fadenscheinig, aber scheinbar vor kurzem noch benutzt. Die Sperrmüllhaufen wiederum wurden von Zigeunern* zusammengestapelt, sortiert und bewacht (Am nächsten Tag waren sie weg, sie wurden scheinbar abtransportiert.) Nach einigem Herumirren fanden wir die Vaci Utca und hakten etwas leidenschaftslos die üblichen Nobelläden ab, aber auch hier gab es viel Leerstand.

Es zog sich als Leitmotiv durch die nächsten Tage: Was ist das, daß wir mit dieser Stadt nicht warm werden? Der brutale innerstädtische Umbruch? Die sehr freundlichen, aber verständlicherweise mit sich selbst und dem täglichen Überleben beschäftigten Menschen? Das graue, kalte Wetter (auch die Ungarn froren sich den A... ab)? Unsere Gruppendynamik? Ich erkunde Städte am liebsten, in dem ich in die größte Gemäldesammlung gehe und danach die Menschen beobachte, vorzugsweise an einem gemütlichen Plätzchen. HeMan baut sich ein Sightseeingprogramm, um es einzustampfen, sobald er gute Fotomotive findet, was meistens schnell passiert. Der englische Freund wollte vor allem viel über Tokaierwein wissen und eine größere Menge guter Flaschen kaufen. Wir bremste uns regelmäßig gegenseitig aus. Zwei Kopfmenschen versackten in Diskursen, während der Augenmensch in Raserei verfiel, weil es nicht vorwärts ging oder aber wir vorwärts gingen und nicht merkten, daß er fotografieren wollte.

Die Situation spitzte sich zu, als wir das gerade laufende Jazzfestival besuchen wollten. Ein Fest, das zu einem guten Teil im Freien stattfindet. Das ist besonders schön, wenn es von der Donau her eiskalten Wind gibt, in Strömen regnet, der Glühwein lauwarmes rotes Zuckerwasser ist und es sich beim gerade laufenden Act um deutschen Free Jazz handelt. Mir taten beide Knie weh (das tun sie seit einigen Monaten erschreckend oft), den englischen Freund schmerzte die Hüfte und wir froren beide. Es gab auch nix ordentliches zu essen, das dortige studentische Publikum kann es sich kaum leisten, aushäusig üppig zu essen. Wir zogen weiter, in eine Kneipenmeile, wo weitere Konzerte stattfinden sollten. Doch die Kneipen waren brechend voll und der englische Freund weigerte sich, zu stehen (insgeheim glaube ich, er mag keinen Jazz, ich fand die Musik aber auch nicht soooo klasse), außerdem hatte er im Fenster eines sehr gemütlich aussehenden persischen Restaurants eine hübsche Bauchtänzerin entdeckt. Das war der Moment, wo sich die beiden Jungs fast Haue angeboten hätten. Wir landeten dann doch dort, weil wir in keine andere Kneipe mehr reinkamen. Die Bauchtänzerinnen waren leider zu mager, um die Sache richtig gut zu können (die Männer fanden sie natürlich zu dick) und mit uns saßen ein paar Budapester Paris Hiltons (mangels Chihuahua hatte sie einen Yorkshire Terrier) und eine Gesellschaft hinreißend schöner orientalischer Twens, die viel Glitzer auf nackter Haut und den schwarzen Klamotten trugen.

Fortsetzung folgt ...

*Warum ich nicht politisch korrekt Roma schreibe? Weil sich für mich mit dem Wort Roma nichts verbindet. Das könnte auch die Bezeichnung für die Einwohner von Rom sein. Mit dem Anderen Böse-Böse-Wort verbindet sich für mich eine ganze fremdartige Kultur. Mit ihrer Faszination und ihren Reibungspunkten.

Ungarn kann sehr kalt sein I

Ich war in den Zeiten als die Mauer noch stand nie in Budapest. Das hatte keine besonderen Gründe. Irgendwie hat mich die Urlaubslogistik immer daran vorbeigetragen. An Szeged und Eger kann ich mich erinnern, an Budapest nicht.
Natürlich kannte ich die schwärmerischen Kommentare der anderen. Daß es ein bißchen sei wie im Westen, es gäbe Jeans und Lux-Seife zu kaufen. Außerdem waren die Nächte im Sommer warm, das Leben leicht, die Nahrungsbeschaffung noch leichter - Trauben, Pflaumen, Pfirsiche, was das Herz begehrt - und doch war es noch vertraut, fast deutsch, so wie Prag. Nicht so fremd wie das sehr balkanesische Bulgarien und die Hölle Rumänien mußte auf dieser Reise auch nicht durchquert werden.
Fotos (so ein bißchen Prag ein bißchen Wien und das unter sehr blauem Himmel) und Ufa-Filme nährten zusätzlich meine Phantasie.
Als der englische Freund meinte, er wolle in seiner beruflichen Auszeit gern die alten, berühmten Großstädte von hinter dem Eisernen Vorhang besichtigen, war ich gern dabei.
Ein Reiseführer wurde erworben und eifrig studiert, beim Packen jedoch sahen wir uns ratlos an. Wetterprognose 11-15 Grad, Regen. Ich liebäugelte mit meiner Daunenjacke, verwarf das und versprach mir, mindestens eine warme Fleecejacke mitzunehmen. Aber selbst das erschien mit peinlich. Nicht auszudenken, in einer so viel weiter südlichen Stadt schwitzend mit allzu warmen Sachen herumzulaufen. Ich warf ein paar Shirts und leichte Pullover in den Koffer und den Regenschirm dazu, zur Beruhigung der Nerven.

Wir quälten uns sehr früh aus dem Bett zum Flughafen. Der schnelle Nonstopflug von Malev, der nationalen Fluggesellschaft, verlangte 120 Minuten vorher da zu sein. Wenn wir erst einmal die Sicherheitskontrolle hinter uns hatten, wollten wir in Ruhe Kaffee trinken und Zeitung lesen. Doch Ungarn begann in Tegel. Die Schalter waren noch nicht besetzt, nebenan sitzende Kollegen meinten, das wäre normal, die Malev käme erst 90 Minuten vorher. Wir standen in der engen Check-In-Halle und die Malle-Touristen zogen an uns vorbei. Ich nutzte die Gelegenheit zum Geldtauschen und kam mit einem obszön riesigen Paket Scheine wieder. Inzwischen hatte die 90-Minuten-Frist begonnen. Ein eleganter, graumelierter Herr in blaugoldener Uniform sortierte hinterm Tresen und bat sich mit sehr angenehmer, leiser Stimme etwas Geduld aus, noch zehn Minuten, dann könnten sie beginnen. Was entschieden nichts für überpünkliche, zeithysterische Deutsche ist. Doch der Herr in der Uniform ließ sich nicht beeindrucken. Auf jegliches Genöle sagte er: Ich entschuldige mich! Mit uns hatte sich eine Gruppe älterer Damen und Herren mit schwerem Dialekt - Schwaben oder Pfälzer - eingefunden. Wäre nicht die berüchtigte Sandalen-und-Socken-Kombi der Herren gewesen und hätten die Damen nicht Nordic-Walking-Stöcke zu praktischen roten Outdoorjacken getragen, hätte ich sie nicht als Deutsche identifizieren können. Ihre Sprache war unverständlich. Dann gab es noch den einen oder anderen verranzten Studienrat oder Bibliothekar mit Studiosus-Rucksack und eine scharf aussehende Russin mit Mini-Minirock und riesigen, fast freigelegten Silikonbrüsten, die in was weiß ich für Geschäften reiste.

Unser Hotel war diesmal eine Kategorie über dem, was wir sonst bevorzugen, denn der englische Freund liebt die Bequemlichkeit. Ich kann es auf jeden Fall empfehlen. Die auf den meisten Fotos abgebildeten größeren Zimmer sind mir etwas zu overstyled. Ein Stockwerk drüber gibt es nette Büdchen mit erhöhtem Schlafplatz mit ähnlicher Farb- und Materialgestaltung, aber weniger ambitioniertem Design und absolut rückenschmerzfreien Betten. (und!!! WLAN, überall, umsonst und schnell. Überhaupt hat die Budapester Innenstadt an den meisten großen Plätzen und in den Gebäuden WLAN umsonst. Was für mich, die ich ja immer etwas nebenbei arbeiten muß, hervorragend ist.) Mit Wochenendtarif ist das Doppelzimmer für 85 € die Nacht zu haben. Ob das noch lange so bleibt, ist fraglich, das Hotel ist erst 3 Monate alt und liegt mitten im historischen Viertel auf dem Burgberg. Dort, wo auch das Hilton im gruseligen 70er-Stil zwischen die Ruinen eines Jesitenkollegs und einer Franziskanerkirche in Beton gegossen wurde. Das häßliche Ding gehört sofort abgerissen!

...Fortsetzung folgt

19
Sep
2008

Hä?

Was das Verständnis der Sprache angeht, hätten wir auch nach China fliegen können. Manchmal taucht das eine oder andere Lehnwort aus dem indoeuropäische Sprachraum auf, das hilft aber meistens auch nicht weiter...
Nicht vergessen: Fözelek heißt Gemüse...

17
Sep
2008

Zeitkapsel 2

Ein Freund schickte mir gestern eine Mail, die vor genau 9 Jahren an ihn schrieb:

Gestern abend, als ich losging, stand ich vor dem Spiegel und hatte zu ersten Mal das Gefühl, alt zu werden. Ich habe mit allen Tricks die Furchen der Müdigkeit nicht aus dem Gesicht bekommen. Und ich sagte mir: so fängt es also an, der Auseinanderfall von Selbstbild und wahrer Erscheinung. Das ist nichts hysterisches und kein fishing for compliments. Es war einfach so.
(...)
Soll ich Dir noch eine Geschichte erzählen? Ich saß gestern abend noch auf dem Steg, um das aufgeschobene Telefonat zu führen und habe die allerletzte Sternschnuppe dieses denkwürdigen Sommers gesehen. Und als ich heute morgen aufwachte, wußte ich auch, daß dies die letzte Sommernacht auf dem Steg für dieses Jahr war. Jetzt wird es Herbst.


Es hat sich nicht viel verändert. Nur der Steg fehlt und der Fluß.

Was wäre wenn

die Mauer noch stünde? Dann würde die derzeitige Wirtschaftskrise (deren Auswirkungen wir heute nicht in Ansätzen vorausahnen können) im Neuen Deutschland frohlockend kommentiert. Als das Ende des faulenden, absterbenden Kapitalismus: Ein Land kauft seine wichtigsten Banken. Verstaatlichung ohne Revolution.
Genauso wie es sich niemand in seinen Träumen ausmalen konnte, daß zwei mit Passagieren besetzte Verkehrsflugzeuge in zwei Bürowolkenkratzer gelenkt werden, hat sich nie jemand ausmalen können, daß Mißwirtschaft ausreicht und Ideologie garnicht nötig ist, um im Mutterland des Kapitalismus plötzlich Staatseigentum an Produktionsmitteln entstehen zu lassen.
Schade, daß das meine Großeltern und Urgroßeltern nicht mehr erleben...
Siehe auch hier.

Im Chor

I'd do anything for love zu brüllen ist eine gute Therapie. Ich hatte heute morgen einen mittelprächtigen Kater und in mein Gesicht sind zwei Lachfältchen zurückgekehrt. Die herunterhängenden Mundwinkel sind mit unbekanntem Bestimmungsort verreist. Gut so.
Der exbloggende Herr Ereignishorizont hat neben Rücken nun auch Kopf. Denn auch in einer 4-Mann-Karaokekabine geht mit mir irgendwann die Rampensau durch und ich fange an, mit großen Gesten ein nichtvorhandenenes Publikum zu animieren. Da stand er leider im Weg. Tschuldigung. Wenden Sie sich wegen Schadenersatzklagen bitte an mein Management.
Eine Erkenntnis, die mich nicht überrascht: Ich lese mittlerweile besser Englisch als Russisch und so waren die Zeilen der russischen Lieder immer vorbei, als ich sie entziffert hatte.

Und nun packe ich mein Köfferchen, denn morgen früh gehts ab nach Budapest, mit HeMan und dem Englischen Freund.

16
Sep
2008

Richard Wright

Für mich war die Geschichte von Pink Floyd vor "The Wall" zu Ende.
Ohne Bravo zu lesen. Nur mittels Musik und legendären Plattencovern.

13
Sep
2008

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The Diary of Kitty Koma

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Deshalb. Letzter Abschnitt.
Deshalb. Letzter Abschnitt.
kittykoma - 7. Nov, 23:29
Warum?
cabman - 7. Nov, 21:33
Es ist vollbracht
Kitty und ihr Tagebuch sind wieder an die alte Adresse...
Kitty (importiert durch kittykoma) - 18. Okt, 16:03
wieder einmal bestätigt...
wieder einmal bestätigt sich, dass sport eben doch...
Huehnerschreck - 6. Apr, 10:21
Einmal im Jahr
muß sein. 2007: angebrochene Rippe im Wanderurlaub. 2008:...
kittykoma - 4. Apr, 20:44
Ich will auch einen Staubsauger...
Ich will auch einen Staubsauger mit dem die Hausarbeit...
Steffi (Gast) - 8. Mai, 06:45
Saure Eier
Bei uns gehen Saure Eier etwas anders. Mit Butter in...
Schwaka (Gast) - 17. Feb, 14:20
another feuchtgebiet...
spätpubertäre literaturwunderkinder - siehe...
kittykoma - 6. Feb, 13:43

Kittytweets

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    Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

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